Leserbrief zum angehängten Bericht im Spiegel
Der Antisemitismus greift in Kultur ein, dabei wird die berechtigte Kritik an der Politik Israels mit Antisemitismus bewusst gleich gestellt…
„In Ihrem Beitrag heißt es: »Kauft nicht beim Israeli« – das klingt in vielen Ohren fast wie »Kauft nicht beim Juden!«. Diese Gleichstellung ist plakativ und dazu geeignet, unbestrittene Fakten auszublenden. Die Palästinenser werden heute nun mal vom israelischen Staat drangsaliert und unterdrückt, wie dies von Ihnen selbst angedeutet wird. Dass dieser Staat „zufällig“ jüdisch geprägt ist, rechtfertigt in keiner Weise, die Position der Palästinenser und ihrer Förderer als antisemitisch im Sinne der NA-Ideologie zu diffamieren. Wäre dieser Staat englisch oder maltesisch, würden sich die Palästinenser dementsprechend antienglisch bzw. antimaltesisch verhalten. Daraus ergäbe sich nicht der Vorwurf des Rassismus oder einer menschenverachtenden Ideologie.
Dass Sie in Ihrem Beitrag die Undenkbarkeit der Unterscheidung zwischen dem Antisemitismus und einer israelkritischen Haltung suggerieren, („Ist da überhaupt ein Unterschied denkbar: zwischen antiisraelisch und antisemitisch?) ist aus der Sicht eines differenzierten Denkens höchst bedenklich.
Im Übrigen: Was spricht völkerrechtlich und moralisch dagegen, die Politik eines Staates (Israel) zu sanktionieren, der die Rechte eines besetzten Volkes (Palästinenser) mit Füßen tritt, große Teile seiner Territorien abriegelt bzw. dort Siedlungen im exzessiven Maße auf Kosten der autochthonen Bevölkerung errichtet? Warum sind Sanktionen gegen Russland und Iran legitim, im Falle Israels jedoch verpönt, weil sie womöglich antisemitisch oder rassistisch sein könnten? Im Übrigen richten sich die Boykottaufrufe maßgeblicher BDS-Aktivisten nicht gegen „israelische“ Waren, sondern gegen solche Waren, die aus den völkerrechtswidrigen Siedlungen Stammen. Dies ist ein substantieller Unterschied, der in Ihrem Artikel wenig Beachtung findet.“
Dr. Aref Hajjaj
Spiegel, 7/7/2018
Gesinnungstest
Antisemitismus Der Nahostkonflikt greift auf deutsche Kulturfestivals über. Wo ist die Grenze zwischen Israelkritik und Judenhass?
Die Young Fathers klingen wie Gospelsänger, die lange in einer Kirche eingesperrt waren – und nun in die Freiheit entlassen worden sind: in eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, aber auch der vielen Wahrheiten und Konflikte. Sie singen über Identität und Macht, Gewalt und Krieg, Liebe und Sex. Und immer wieder über Gott und den Teufel.
Es ist die Musik zweifelnder junger Männer, ein Weißer und zwei Schwarze, eine schottische Popgruppe in der digital zerfaserten Postmoderne. Kritikern gilt sie als »die interessanteste neuere Band im englischsprachigen Raum«, und entsprechend stolz war Stefanie Carp, die neue Intendantin der Ruhrtriennale, als sie die Young Fathers für ein Konzert gewinnen konnte. In einer Jubelmeldung teilten die Macher des im August beginnenden Festivals mit, deren Musik lasse sich »in keine Schublade stecken«.
Die politische Einstellung der Bandmitglieder eventuell schon – in die unterste Schublade, die mit den Antisemiten. Ob dies zu Recht geschieht oder nicht, ist umstritten, aber die Debatte bringt Carp in Bedrängnis, einzelne Journalisten und Politiker haben schon ihren Rücktritt gefordert. Diese Woche berichtete nun sogar die »New York Times« über den Fall. Der Tenor: Das Gezeter an der Ruhr habe wenig mit der Musik der Band zu tun, aber sehr viel mit deutscher Geschichte.
Die Young Fathers sehen sich als Vertreter des sogenannten Anti-Establishments, sie twittern gegen rechte Demonstrationen, zeigen sich auf Kundgebungen der Gruppierung Unite Against Facism, fordern ein Großbritannien ohne Atomwaffen und setzen sich für die Aufnahme von Flüchtlingen ein. Bislang wurde kein Vorwurf bekannt, dass sie sich auf ihren Platten oder bei ihren Liveauftritten antisemitisch äußern würden, aber: Sie haben sich mindestens zwei Kampagnen der BDS-Bewegung angeschlossen.
Die Bewegung wurde 2005 von mehr als hundert zivilgesellschaftlichen palästinensischen Gruppen gegründet, sie setzt sich für die Rechte der Palästinenser ein und hetzt gegen den israelischen Staat. Das Kürzel BDS steht für ihre Strategie: Boycott, Divestment and Sanctions, zu Deutsch Boykott, Abzug von Investitionen und Sanktionen. Vorbild ist das Vorgehen gegen den damaligen Apartheidstaat Südafrika in den Achtzigerjahren. Die weiße Burenregierung allerdings war ein rassistisches Regime, die Situation Israels hat andere Gründe: die Lage des Landes inmitten der ihm von Anbeginn an feindlich gesinnten islamischen Welt, dazu die historische Erfahrung des Holocausts.
Einer der prominentesten Vertreter des BDS ist Roger Waters, einst Star der Rockband Pink Floyd. 2017 führten er und zahlreiche andere Musiker, darunter eben auch die Young Fathers, eine Kampagne gegen die britische Band Radiohead: Sie solle ein in Tel Aviv geplantes Konzert absagen. Derartige Boykottaufrufe sind typisch für den BDS. Es geht darum, Israel kulturell zu isolieren. Radiohead widersetzten sich – und spielten. Es folgte ein Shitstorm, beim Glastonbury Festival wurden Radiohead ausgebuht. Die Band beschrieb den Druck auf sie als »zermürbende Erfahrung«.
Zu den Musikern, die sich in den vergangenen Jahren anders entschieden und Konzerte in Israel abgesagt haben, zählen Björk und Lorde, Elvis Costello und die Gorillaz. Die Popkultur, die im besten Fall eine Feier der Gemeinschaft ist, wird immer mehr zu einem Schauplatz von Grabenkämpfen.
Waters greift in diesen Kämpfen mitunter zu Waffen, die zu Recht geächtet sind; bei seinen Konzerten lässt er schon mal einen Ballon in die Luft steigen, der die Form eines Schweins hat – und einen Davidstern trägt. Öffentlich-rechtliche Fernsehsender in Deutschland weigern sich inzwischen, seine Konzertauftritte auszustrahlen.
Ist die BDS-Bewegung nur antiisraelisch oder auch antisemitisch? Ist da überhaupt ein Unterschied denkbar: zwischen antiisraelisch und antisemitisch? Und, falls ja: Sollten deutsche Politiker und Festivalmacher die Frage eventuell trotzdem anders beantworten als, sagen wir mal, britische, bei denen die Bewegung bislang viel präsenter war als bei uns?
Es sind die ganz großen Fragen, mit denen sich die Intendantin Carp konfrontiert sieht, seitdem ein Blog das Engagement der Young Fathers skandalisiert hat. Bei Boykottaufrufen gegen Israel schrillen in Deutschland alle Alarmglocken. »Kauft nicht beim Israeli« – das klingt in vielen Ohren fast wie »Kauft nicht beim Juden!«.
Als der Druck zu groß wurde, forderte Carp die Young Fathers auf, sich vom BDS zu distanzieren. Die Band weigerte sich. Carp lud sie aus. Daraufhin inszenierten sich die drei schottischen Musiker als Opfer von Zensur, beklagten auf der Internetseite »Artists for Palestine UK« die »falsche und unfaire Entscheidung« der Ruhrtriennale. Was sie nicht schrieben: dass die Ruhrtriennale den Wortlaut der Absage mit dem Manager der Band abgestimmt und auf dessen Wunsch zur harten Formulierung »Ausladung« gegriffen hatte. So erzählt es Carp. »Der Manager hat uns ein bisschen reingelegt. Wir waren ganz schön naiv.« Carp lud die Band schließlich wieder ein, doch nun wollte die Band nicht mehr. Ein PR-Desaster.
Bei Boykottaufrufen gegen Israel schrillen in Deutschland alle Alarmglocken.
Carp hat der Ruhrtriennale, die sie in diesem Jahr zum ersten Mal leitet, das Motto »Zwischenzeit« verpasst, sie werde »Formate des Vorläufigen erfinden«, hat sie angekündigt. Das Problem ist: Gute Kunst mag ambivalent sein wie eh und je, aber Ambivalenzen abseits der Kunst halten viele Menschen heute nicht mehr aus. In einer Zeit, in der nichts mehr sicher scheint, sehnen sie sich nach Sicherheiten, auch nach ideologischen, sie verlangen nach eindeutigen Positionen und klaren Ansagen, Daumen hoch oder Daumen runter.
Carp hingegen stand in der BDS-Debatte von Anfang an nicht mit beiden Beinen fest auf dem Boden einer Ideologie, sie tippelte von einem Fuß auf den anderen. Man kann darin eine intellektuelle Tugend sehen, aber auch eine Schwäche; man kann es für sympathisch halten, aber auch für naiv: ein Festival zu managen wie früher, als es noch keine Social-Media-Kampagnen gab.
Nordrhein-Westfalens Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen kritisierte die Wiedereinladung der Young Fathers, die Kulturstiftung des Bundes ebenfalls. Inzwischen schlägt die Debatte auf die Stimmung in Carps Team, dessen Mitglieder sich kritischen Fragen und Antisemitismusvorwürfen stellen müssen, selbst an der Tickethotline.
Im britischen »Guardian« hingegen erschien ein offener Brief, der die Ausladung der Young Fathers als Akt der Zensur geißelt: »Wir sind beunruhigt von Versuchen in Deutschland, Künstlern politische Auflagen zu machen, wenn sie sich für Menschenrechte von Palästinensern einsetzen.« Unterzeichnet haben ihn 79 Künstler und Intellektuelle, darunter die feministische Philosophin Judith Butler und der Linguist Noam Chomsky, die beide jüdischer Abstammung sind, die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis, der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und natürlich etliche Musiker, darunter Jarvis Cocker und Roger Waters.
Welchen Druck die BDS-Bewegung aufbauen kann, zeigte sich vergangenes Jahr in Berlin beim »Pop-Kultur«-Festival. Bis zu 150 Bands und Künstler traten auf, das Budget war opulent: etwa anderthalb Millionen Euro. Die Debatte um das Festival entzündete sich an 500 Euro. Das war der Betrag, den die israelische Botschaft beigesteuert hatte, ein Reisekostenzuschuss für die israelische Sängerin Riff Cohen. Das Festival druckte ein Logo der Botschaft im Programmheft, so wie die Logos Dutzender anderer Partner. Ein üblicher Vorgang in normalen Zeiten, ein Politikum in aufgeheizten Zeiten wie diesen.
Über die englischsprachige BDS-Website startete die Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI) einen Boykottaufruf. Überschrift: »Pop-Kultur 2017 – sponsored by Apartheid«. Plötzlich galten die Berliner als verlängerter Arm israelischer Kulturpolitik mit dem Ziel, der Regierung Netanyahu ein besseres Image zu verschaffen. Acht Künstler und Bands sagten ab, darunter die Young Fathers.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) nannte die BDS-Kampagne »absolut unerträglich«, der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke) »widerlich«. Bürgermeister Michael Müller (SPD) sprach von Methoden aus der Nazizeit und gab an, künftig alles Mögliche zu tun, dem BDS »Räume und Gelder für seine antiisraelische Hetze zu entziehen«.
Auch dieses Jahr ruft der BDS zum Boykott des Festivals auf, das vom 15. bis zum 17. August geplant ist, dem Aufruf sind bislang fünf Künstler gefolgt, darunter die britische Postpunk-Band Shopping und der US-Experimentalmusiker John Maus.
Es seien 5 von 150 eingeladenen Künstlern, mehr nicht, betont Katja Lucker, Leiterin des Musicboards, einer Institution des Berliner Senats, die das »Pop-Kultur«-Festival veranstaltet. Sie ist bemüht, die Relation zu wahren und nicht in Hysterie zu verfallen, sie sagt aber auch: »Wir haben im Vorfeld Künstler aus Beirut, Tunesien oder Ägypten angefragt, die haben von Anfang an gesagt, dass sie auf keinen Fall bei uns spielen wollen.« Die BDS-Kampagne verhindere, dass palästinensische und israelische Künstler sich auf neutralem Boden begegneten und miteinander ins Gespräch kämen.
Lucker will sich vom BDS nicht einschüchtern lassen, die Kulturabteilung der israelischen Botschaft beteiligt sich auch diesmal an den Reisekosten, nun sogar mit 1200 statt 500 Euro. »Wir arbeiten selbstverständlich weiterhin mit Israel zusammen.« Eingeladen hat das Festival unter anderem die Autorin Lizzie Doron, die für ihr Buch »Sweet Occupation« mit ehemaligen palästinensischen Terroristen und israelischen Wehrdienstverweigerern gesprochen hat. Den Reisezuschuss zahlte die Botschaft trotzdem.
»Boykott ist nicht Dialog«, sagt Lucker. »Der BDS ruft nicht zum Frieden im Nahostkonflikt auf, im Gegenteil: BDS spaltet und sät Hass.« Gern würde sie mit den Künstlern debattieren, die den BDS unterstützen. Aber das sei momentan nicht möglich. Alle Angebote, um die Konzerte herum eine Diskussion zu veranstalten, bei der die Bands ihre Haltung darlegen könnten, liefen ins Leere.
Auch der SPIEGEL hätte den Young Fathers gern die Gelegenheit gegeben, sich zu äußern, aber die Band ließ ausrichten, dass sie daran derzeit kein Interesse habe. Der BDS hingegen teilte auf Anfrage des SPIEGEL mit, dass er die Young Fathers für Angehörige einer »neuen Generation politisch denkender Künstler« halte, »die sich nicht brechen lässt vom deutschen Neo-McCarthyismus«. Das deutsche »Establishment« sei ziemlich isoliert in seiner »dogmatischen, repressiven, anti-palästinensischen Einstellung«, schrieb Stephanie Adam, Koordinatorin der PACBI.
Die Kampagnen und Gegenkampagnen, die Hysterie und der Hass: All das kehrt in Wellen wieder, seit der BDS im Jahr 2005 gegründet worden ist. Die Bewegung forderte Grundrechte für die arabisch-palästinensischen Bürger Israels und ein Recht auf Rückkehr für die palästinensischen Flüchtlinge, ferner den Abriss der Mauer, die Israel zum Schutz vor Terrorattacken errichtet hatte, und das Ende der Besetzung.
Aber welchen Landes genau? Nur der 1967 besetzten Gebiete oder doch gleich von ganz Israel?
Der BDS-Initiator Omar Barghouti formulierte wiederholt das Ziel, einen palästinensischen Staat auf dem Gebiet des heutigen Israels zu errichten. Geht es der Bewegung um das Ende einer bestimmten Politik oder um das Ende eines Staates? Wird Israel dämonisiert, delegitimiert oder mit besonderen Standards gemessen? Warum sieht sich kein anderes Land der Welt einer Kampagne wie der des BDS ausgesetzt?
Das sind die Fragen, bei denen die Debatte um den BDS immer wieder landet, sie machen die Debatte so hitzig, weil der Übergang von Israelkritik zu Antisemitismus tatsächlich oft fließend ist.
Wichtig ist dabei, wer spricht und mit welchen Motiven. Der israelische Filmregisseur Udi Aloni, der den BDS unterstützt, beschwert sich darüber, wenn sich deutsche Intellektuelle gegen den BDS wenden, möglicherweise aus einem Gefühl von Schuld den Juden gegenüber – wo doch für ihn als linken Israeli der BDS ein geeigneter Weg sei, die in seinen Augen rechtsextreme Regierung von Ministerpräsident Netanyahu zu bekämpfen.
»Ich unterstütze BDS, weil ich so meine jüdischen Werte beschütze«, sagt Aloni, der sich in Dokumentar- und Spielfilmen wieder und wieder mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigt hat. »Ich sage nicht, dass Deutsche BDS unterstützen sollten. Ich würde nur darum bitten, dass sie nicht einen gerechten Widerstand kritisieren oder zensieren und mir nicht sagen, wie ich mein Jüdischsein leben sollte.« Er sei mit den Millionen Palästinensern solidarisch, die unter israelischer Herrschaft lebten und deren Stimme nicht gehört werde. »Ich sage: Hört zu. Wir sind die Stimme der Schwachen. BDS ist eine Form von gewaltlosem Protest.«
Doch wie gewaltlos ist eine Form des Protests, die Künstler in Angst versetzt, die Wissenschaftler attackiert, wenn sie mit israelischen Institutionen zusammenarbeiten? Und vor allem: wie zielführend?
Der akademische Boykott richtet sich just gegen jenes Universitätsmilieu, in dem die Moderaten oder Liberalen arbeiten, die doch Verbündete sein könnten im Versuch, eine andere Politik gegenüber den Palästinensern zu finden. »Das stärkt nur die politische Rechte in Israel«, sagt der Anthropologieprofessor Dan Rabinowitz, der in Tel Aviv lehrt. Die BDS-Bewegung treibe einen Keil zwischen palästinensische und israelische Intellektuelle. Seit es den BDS gebe, würden und könnten sie de facto nicht mehr zusammenarbeiten.
»Der Boykott von Akademikern ist generell problematisch«, findet die US-amerikanische Philosophin Seyla Benhabib, die einer sephardisch-türkischen Familie entstammt. Israel bewege sich unter der Likud-Regierung in die falsche Richtung, meint sie, und es sei »die Pflicht einer links-liberalen Demokratin, das zu kritisieren«. Die Frage sei aber doch, »ob BDS der beste Weg ist, zu positiven Veränderungen zu kommen«.
Israelische Institutionen und Wissenschaftler werden ausgegrenzt, auf der anderen Seite trauen sich selbst jüdische Akademiker in den USA kaum noch, öffentlich für den BDS einzutreten, weil das negative Auswirkungen auf ihre Karriere haben könnte. Es ist paradox: BDS ist eine Bewegung, die auf Ausschluss mit Ausschluss reagiert – und alle in Isolationshaft nimmt. Die Angst, die BDS bekämpfen will, ist Teil von BDS.
Zu spüren bekommen das alle, Israelis und Palästinenser, BDS-Gegner und BDS-Befürworter. Die Bewegung bringt das in die Wissenschaft und in die Kunst, was zu allen Zeiten der größte Feind von Wissenschaft und Kunst war: Moralismus. Aber rechtfertigt allein die ideologische Nähe eines Künstlers zur BDS-Bewegung, diesem Künstler die Bühne zu verbieten und ihn von einem Festival auszuladen? Bedeutet das nicht, sich der Logik der BDS-Bewegung anzuschließen, sie mit ihren eigenen, unlauteren Mitteln zu bekämpfen? Boykott erzeugt Gegenboykott.
Die Intendantin Carp klagt, sie sei zwischen zwei Lager geraten: auf der einen Seite die Kampagne des BDS, auf der anderen Seite deren Gegner. »Ich will einen dritten Standpunkt einnehmen, einen differenzierten. Aber heute hat niemand mehr Bock auf Differenzierung, alle haben Bock auf eindeutige Positionen und Hass.«
Bevor Carp sich zum Interview bereit erklärt, fragt sie, wie der Reporter zum Israel-Palästina-Konflikt stehe. Was seltsam ist, denn ein Gesinnungstest steht in der Regel nicht am Beginn von Gesprächen. Dann aber spricht Carp sympathisch und sehr transparent, sie denkt beim Reden, und manchmal redet sie auch, ohne zu denken. Umso nervöser wird sie nach dem Gespräch, als sie die wörtlichen Zitate wie verabredet vorgelegt bekommt – und bei Weitem nicht alle autorisieren möchte. Sie muss vorsichtig sein im Moment.
Dass Carp die Young Fathers zunächst ausgeladen hat, sei eine »taktische Entscheidung« gewesen, sagt sie, um die Institution Ruhrtriennale zu schützen und auch sich selbst: »Wer wird schon gern als Antisemitin hingestellt?« Sie habe sich nervös machen lassen.
Zum Umdenken brachten sie die Mails vieler Künstler, die sie ebenfalls für ihr Programm gebucht hatte und die nun gegen die Ausladung der Young Fathers protestierten; die meisten dieser Mailschreiber stammen aus dem arabischen Raum. Carp hatte sich bewusst dafür entschieden, viele Künstler von dort einzuladen: »Ich wollte dem globalen Süden eine Stimme geben wegen der beschämenden Abschottungspolitik, die Europa inzwischen wieder betreibt.« Diese Entscheidung flog ihr plötzlich um die Ohren.
Protestmails schickten aber auch der belgische Choreograf Alain Platel und der US-amerikanische Komponist Elliott Sharp. Die Ausladung der Young Fathers habe ihn »ziemlich beunruhigt«, schrieb dieser: Es müsse möglich sein, die israelische Regierung zu kritisieren, ohne als Antisemit bezeichnet zu werden. Und das, schob er hinterher, schreibe er »als Jude und Sohn eines Holocaust-Überlebenden«.
Carp haben die Mails sehr bewegt. »Ich musste meine Credibility bei den Künstlern wiederherstellen.« Sie sei Kuratorin und nehme die Wortherkunft ernst: Curare heißt kümmern.
So selbstlos, wie das klingt, war das Vorgehen freilich nicht. Hätte sie auf der Ausladung bestanden, sagt sie, hätte sie wahrscheinlich ein Drittel ihres Programms verloren – viele Künstler aus der arabischen Welt hätten sich wohl mit den schottischen Israelboykotteuren solidarisiert. Wenige Wochen vor Beginn wäre das Festival bedroht gewesen. »Wenn ich völlig überzeugt gewesen wäre, dass die Young Fathers antisemitisch sind, hätte ich das in Kauf genommen.« Aber so? »Solange Künstler nicht auf der Bühne Propaganda machen, solange habe ich kein Recht, Künstlern die Bühne zu verbieten.«
Was bleibt, ist die Frage, was andere Festivalmacher aus Carps Schlamassel lernen können? Vielleicht hätte Carp direkt eine Podiumsdiskussion nachschieben, noch besser: eine israelische Gruppe nachnominieren sollen – und dann schauen, wie die Young Fathers reagieren. Vermutlich hätten sie ihren Auftritt von allein abgesagt.
Aber auch bauernschlau ist man meist erst hinterher.
Tobias Becker, Andreas Borcholte, Georg Diez, Jurek Skrobala
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