Deutsche Übersetzung der Rede von Gideon Levy über die Israel Lobby in Washington DC am 10. April 2015 im „National Press Club“
Wie kann es sein, dass es bei den Israelis keinen oder kaum Widerstand gegen den israelischen Rassismus gibt? Was läuft in Israel falsch?
Wir haben es mit einer korrumpierenden Freundschaft (zur USA) zu tun. Stellen Sie sich vor, einer Ihrer Verwandten wäre drogenabhängig. Es gäbe zwei Möglichkeiten mit ihm umzugehen. Man kann ihm Geld geben und er wird sich noch mehr Drogen kaufen. Er wird Ihnen sehr dankbar sein. Er wird Ihnen sagen: „Du liebst mich, du bist mein bester Freund.“ Oder man schickt ihn in ein Rehabilitationszentrum. Er wird sehr böse auf Sie sein. Was ist wirkliche Fürsorge, wirkliche Liebe, wirkliche Freundschaft?
Es gibt keine Chance für Veränderung, die aus der israelischen Gesellschaft selbst kommt.Es gibt nur Hoffnung durch ein internationales Eingreifen – Hoffnung von der USA und der EU. Denn die israelische Gesellschaft ist heute viel zu sehr einer Gehirnwäsche unterzogen, die mit der Leugnung lebt – völlig abgekoppelt von der Realität. Ginge es hier um eine Privatperson, wäre meine Empfehlung entweder Medikamente oder Krankenhausaufenthalt. Menschen, die jeden Bezug zur Realität verloren haben, können sehr gefährlich werden, für sich selbst und für die Gesellschaft. Die israelische Gesellschaft hat den Bezug zur Realität verloren. Sie hat jeden Bezug zum internationalen Umfeld verloren – tatsächlich zu glauben, 5 Millionen Juden würden es besser wissen als 6 Milliarden Menschen weltweit – tatsächlich zu glauben, 5 Millionen Juden könnten ewig mit dem Schwert in der Hand leben – tatsächlich zu glauben, im 21. Jahrhundert sei es zulässig, internationales Recht und Institutionen derart zu ignorieren.
Die Veränderung muss von der USA und der EU kommen. In Israel ist es ein hoffnungsloser Fall. Vergessen Sie es. Die israelische Gesellschaft hat sich mit Mauern abgeschirmt. Nicht nur physisch, sondern auch mental. Ich will hier nur drei Prinzipien nennen, die uns Israelis befähigen, ungestört mit dieser brutalen Realität zu leben:
1. Die meisten Israelis – wenn nicht alle – sind zutiefst davon überzeugt, dass wir das auserwählte Volk Gottes sind – und wenn wir das auserwählte Volk Gottes sind, dann haben wir das Recht zu tun, was immer wir wollen.
2. Es gab brutalere Besatzungen in der Geschichte. Es gab sogar längere – auch wenn die israelische Besatzung einen beachtlichen Rekord aufstellt. Aber nie gab es in der Geschichte eine Besatzung, in der sich die Besatzer als Opfer darstellten – nicht nur als Opfer, sondern als einzige Opfer weit und breit. Das lässt jeden Israeli mit ruhigem Gewissen leben, denn wir sind die Opfer. Neulich sprach Prof. Falk über die israelische Doppelstrategie, Opferrolle auf der einen Seite und Manipulator auf der anderen. Nach den Terrorattacken in Kopenhagen und Paris erklärte Netanjahu, alle Juden müssten nach Israel kommen, es sei der sicherste Ort für Juden weltweit, eine Zuflucht für alle Juden. Das ist falsch. Israel ist heute der gefährlichste Ort für Juden. Nur 24 Stunden später erklärte er, Israels Existenz sei durch die iranische Bombe bedroht.
3. Die dritte Wertvorstellung ist die gefährlichste. Es ist die systematische Entmenschlichung der Palästinenser, die uns Israelis mit ruhigem Gewissen leben lässt. Wenn sie keine Menschen sind wie wir, dann haben wir kein Problem mit Menschenrechten. Wenn man ein wenig an der Fassade der meisten Israelis kratzt, begegnet einem das. Kaum einer behandelt Palästinenser als gleichwertige Menschen. Wie viele Israelis haben jemals versucht sich für einen Moment in die Lage der Palästinenser zu versetzen, für einen Moment, für einen Tag? Ich will Ihnen zwei Bespiele geben, um das deutlich zu machen: Vor vielen Jahren interviewte ich den damaligen Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt, Ehud Barak. Ich stellte ihm die Frage, die ich öfter stelle: „Herr Barak, was wäre geschehen, wenn Sie als Plästinenser geboren wären?“ Und Barak gab mir die einzig ehrliche Antwort. Er sagte: „Ich wäre einer Terrororganisation beigetreten.“ Was sonst hätte er tun können? Es kam zum Skandal, denn wie konnte jemand wagen, Barak zu fragen was passiert wäre, wenn er als Palästinenser geboren wäre.
Der zweite Vorfall: Während der zweiten Intifada, Djenin, die am meisten abgeriegelte Stadt in der Westbank, totale Belagerung. Ich komme aus Djenin zum Checkpoint, eine palästinensische Ambulanz mit Rotlicht parkt dort. Ich stehe hinter ihr. Kein Auto kann in jenen Tagen Djenin verlassen oder hineinfahren. Ich warte. Die Soldaten fangen an, Backgammon zu spielen, in ihrem Zelt. Ich kenne mich selbst. Es ist besser, ich vermeide die Konfrontation mit Soldaten, denn das endet immer böse. Ich bleibe also im Auto. Nach 40 Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Ich verließ das Auto und fragte zunächst den palästinensischen Ambulanzfahrer, was los sei. Er sagte: „Das ist ihre Routine, sie lassen mich eine Stunde warten, bevor sie die Ambulanz kontrollieren.“ Das konnte ich nicht länger hinnehmen, ich ging zu den Soldaten, es kam zu einer Konfrontation. Meine Frage, die sie veranlasste ihre Waffen auf mich zu richten war: „Was würde passieren, wenn Euer Vater in dieser Ambulanz läge?“ Sie flippten aus, verloren ihre Kontrolle. Wie konnte ich einen Vergleich wagen zwischen ihrem Vater und dem Palästinenser in der Ambulanz! Die Vorstellung, Palästinenser seien keine Menschen wie wir, lässt uns Israelis mit ruhigem Gewissen leben, mit all den Verbrechen, seit so vielen Jahren, mit dem Verlust jeglicher Menschlichkeit und Werte.
Ich hörte heute, einige sprechen von jüdischen Werten. Ich muss ehrlich mit Ihnen sein. Ich weiß nicht, was jüdische Werte sind. Ich weiß nicht, was universelle Werte sind. Es gibt klare universelle Werte. Und es gibt ein eindeutiges internationales Recht. Für die meisten Israelis ist internationales Recht sehr wichtig – aber nicht für Israel. Israel ist ein Sonderfall. Warum? Damit sind wir wieder bei den Wertvorstellungen, dem Leben mit der Leugnung.
Zurück zum Thema unseres Podiums. Ist die Israel-Lobby gut für Israel? Nein. Sie ist sehr korrumpierend. Solange die USA Israel gewähren lassen, sind offensichtlich die Palästinenser die ersten und unmittelbaren, unbeschreiblichen Opfer. Aber letztendlich, was wird aus Israel nach all den Jahren? Was ist es bereits heute? Wo geht es hin? Alles wird schlimmer. Deshalb hoffe ich kaum auf Veränderung in der israelischen Gesellschaft. Sie wissen wahrscheinlich, es geht in eine immer nationalistischere, millitaristischere, religiösere Richtung. Mit sehr wenig Hoffnung auf Veränderung, die von Innen kommt. Warum sollten sich Israelis Veränderungen wünschen? Wo ist der Anreiz, warum sich soviel Mühe machen? Das Leben ist gut so.
Sie hätten Israel zur Zeit der Bombardierung Gazas sehen sollen. Die Strände waren voller Menschen, während die Helikopter darüber hinweg flogen, um Gaza zu bombardieren. Das israelische Fernsehen zeigte kaum Fotos von dort. Zeitungen berichteten kaum. Ich schrieb einen Artikel über die Verantwortung der Piloten. Danach brauchte ich Leibwächter, um mein Haus zu verlassen. Problematisch war übrigens, dass die Leibwächter Siedler waren. Sie stritten mit mir den ganzen Tag, bis ich merkte, dass ich sicherer ohne Leibwächter war als mit ihnen.
Ich komme zum Schluss. Der letzte Krieg in Gaza lehrte uns auch, dass Israel heute drei Regime hat, vielleicht ist es der einzige Staat in der Welt mit drei Herrschaftsformen: Eine für die Juden, eine für die arabischen Bürger und das Apartheid-Regime in der Westbank und Gaza, eine der brutalsten und grausamsten Tyranneien der Welt. Aber selbst was die Fassade betrifft, die Demokratie, die für mich immer eine Demokratie für jüdische Bürger war – im vergangenen Sommer erkannte ich, es ist eine Demokratie für seine jüdischen Bürger, unter der Vorraussetzung, diese denken wie die Mehrheit. Zum Abschluss möchte ich Ihnen sagen, wenige von uns, sehr wenige, viel zu wenige, richten ihre große Hoffnung auf den Westen, auf Europa, die USA, da wir jede Hoffnung auf Israel verloren haben.
Gideon Levy